Um was geht es in Nordwasser von Ian McGuire?

Auf dem Walfangschiff „Volunteer“ treffen der gewissenlose Harpunier Henry Drax und der frühere Militärarzt Patrick Sumner aufeinander. Beide tragen Geheimnisse in sich, und auch der eigentliche Zweck der Fahrt liegt lange im Dunkeln. Denn im späten 19. Jahrhundert ist der Walfang kaum noch ein einträgliches Geschäft. Welchen Grund haben also beide wirklich, sich für eine lange, schmutzige und brutale Reise zu verdingen? Die Spannungen nehmen im Laufe der Fahrt nicht nur zwischen Drax und Sumner immer weiter zu, bei der gesamten Besatzung liegen bald die Nerven blank. Während die Walsuche ohne großen Erfolg bleibt, entladen sich Frust und Hass in unaussprechlicher Gewalt.

Nordwasser von Ian McGuireNordwasser“ ist eine eindrucksvolle Studie menschlicher Psychologie: Wozu sind Menschen fähig, die auf engstem Raum Dinge tun müssen, die in anderer Umgebung als roh, unzivilisiert oder gar unmenschlich gelten würden? Ian McGuire liefert mit seinem Roman eine Antwort, die nicht jedem gefällt. Insbesondere zartbesaitete Leser nehmen besser Abstand. „Nordwasser“ ist keine Geschichte für Mimosen: Hier wird der Darminhalt über die Reling entleert, an anderer Stelle wird ein Eisbär ausgeweidet, um sich darin vor einem Schneesturm zu schützen. Dergleichen Szenen beschreibt McGuire schonungslos, in allen ekelhaften Einzelheiten und in einer äußerst beschreibenden Sprache.

Aber es ist eben ein Walfänger, auf dem sich die Protagonisten bewegen, und kein Kreuzfahrtschiff – und dementsprechend derb und rau ist die Mannschaft. Wobei das im Fall des Henry Drax eine grobe Untertreibung ist, denn der ist im Grunde ein Teufel in Menschengestalt. Er hat keine Vorstellung von Moral, ist ein eiskalter Mörder, ein brutaler Vergewaltiger; er handelt wie ein wildes Tier. Und er hat Erfolg damit, denn bisher ist er mit all seinen Verbrechen immer davongekommen. Der Schiffsarzt Sumner bildet seinen Gegenpart, eine Art tragischen Helden. Denn auch Sumner ist nicht ohne Fehler, er wurde unehrenhaft aus der Armee entlassen und hat den Tod eines Kindes mit auf dem Gewissen. Seitdem ist er abhängig von Laudanum und die ganze Welt ist ihm vollkommen gleichgültig. Doch immerhin, er hat noch einen Rest Gewissen, dass sich nach der brutalen Vergewaltigung und späterem Mord an einem Schiffsjungen regt. Nicht nur das unterscheidet ihn wesentlich von Drax und sorgt dafür, dass die beiden aneinandergeraten.

Ian McGuire nutzt eine klare, aber sehr drastische Sprache für seine eindringliche Geschichte. Das ist mitunter schwer zu ertragen, aber der raue Ton ist das passende Stilmittel für die derbe Umgebung und die harten Männer auf dem Schiff. Wenn sie jagen, wenn sie kämpfen: Es wird geflucht, es fließen Blut und andere Körperflüssigkeiten – kurzum, „Nordwasser“ ist stellenweise wirklich alles andere als appetitlich . Ein „schönes“ Buch ist das beileibe nicht, zumindest wenn man den Maßstab einer netten Geschichte mit liebenswürdigen Figuren ansetzt. Trotzdem ist es ein faszinierendes Buch, und außerdem in all seiner Direktheit hervorragend geschrieben.

Mein Fazit zu Ian McGuires „Nordwasser“:

„Nordwasser“ ist in mehrerer Hinsicht ein Buch über den Kampf ums Überleben. Vordergründig ist da die Mannschaft des Walfängers, die in einer unwirtlichen Umgebung nicht nur gegen die Natur kämpft. Dann geht es aber auch um den Fortbestand einer Profession, die sich aufgrund neuer technischer Errungenschaften im Niedergang befindet. Nicht zuletzt dreht sich der Roman um Fragen der Moral und der Menschlichkeit. Große Themen also, verpackt in ein spannendes und mitreißendes Abenteuer mit dramatischen Anklängen. Manch einer mag, weil es schließlich um Walfängerei vor historischem Setting geht, unweigerlich an „Moby Dick“ denken. Und ganz so fern ist das nicht: Ian McGuire ist nicht nur Schriftsteller, sondern auch Literaturwissenschaftler – und als solcher ein Experte für die Werke von Hermann Melville. Hinter dem großen Vorbild verstecken muss sich „Nordwasser“ aber beileibe nicht. Uneingeschränkter Buchtipp für Leser mit einem stabilen Magen. ;-)

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Produktinfos:

Verlag: mare

Seiten: 336

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